Ich sitze am Flughafen Berlin und warte darauf, in den Flieger zu steigen. Endlich geht es los. Die letzten Tage und Wochen waren eine Gefühlsachterbahnfahrt. Es gibt so viele Menschen, die mir bei der Vorbereitung dieser Reise geholfen haben und es überhaupt möglich machen dass ich gleich fliegen kann: Meine Familie, meine Freunde, MitbewohnerInnen, ArbeitskollegInnen, kulante Verwaltungsmenschen usw. Das beinhaltet finanzielle Unterstützung, das praktische Abnehmen von noch zu erledigenden Aufgaben, mir nachzusehen, dass ich in meine WG-Aufgaben vernachlässigt habe, das Schreiben von Empfehlungsschreiben, das mitten in der Nacht einspringen, wenn ich trotz aller Vorsicht etwas Dringendes vergessen habe, emotionale Unterstützung in Form von Reden und Umarmungen oder einfach nur ein richtiges Wort zum richtigen Zeitpunkt. Soviel praktische Solidarität erfahren zu haben, gibt mir ein gutes Gefühl für meinen Abflug.

In eine Stadt wie New York zu gehen, bedeutet einen Prozess zu beginnen, der einen mythischen Ort in einen realen verwandelt. New York besitzt in der kollektiven Imagination vielfältige Bedeutungen. Fast jeder verbindet etwas mit der Stadt, egal ob er oder sie schon mal persönlich dort war. Unabhängig davon, ob wir eine Ahnung von der realen geografischen Verortung haben, eine Vielzahl von Stadtteilen und konkreten Orten New Yorks ist bekannt, vermittelt über Popkultur, Englischunterricht, Fernsehen, Nachrichten etc. Dank Friends haben wir eine Vorstellung vom Leben in einer New Yorker WG, während Sex and the City uns vermeintlich einen Einblick in das New Yorker Balzverhalten geboten hat. Gerade aufgrund dieser kulturellen Vermittlung und dem Fehlen unmittelbarer Erfahrungen sind manche Orte eher als Metaphern, als Andeutungen für ein bestimmtes Gefühl, einen Lebensstil oder einen bestimmten leidenschaftlichen Strom in unserem Reden und Denken. Egal was sie heute sein mögen: Stadtteilen wie Harlem, Manhattan oder die sind mit historischen Assoziationen haftet, wie ein Kopfkissen mit dem Parfum von vorletzter Nacht. Noch deutlicher wird dies, bei konkreten Orten wie etwa dem Broadway. Die Nutzung des Begriffs der Wall Street als Metapher lässt es vergessen, geradezu trivial erscheinen, dass es dort wirklich eine Straße gibt, deren Schild sie als reale Wall Street ausweist, die in einer deutschen Stadt gelegen auch einfach Mauergasse heißen könnte.

Politisch gesehen, bilden New York und die Ereignisse des 11. Septembers für meine Generation den Ausgangspunkt einer beginnenden politischen Sozialisation. An dem Tag wussten wir instinktiv, dass wir heute keine Hausaufgaben machen müssen, weil da irgendwas Wichtiges passiert ist. Etwas, dass nicht klar einzuordnen und zu verstehen war. Aus kollektiv verordnete unbedingter Solidarität und realem Mitleid, aus dem Widerspruch zwischen einem diffus-linkem, antiimperialistisch-antikapitalistisch geglaubtem Antiamerikanismus einerseits und dem Bild der Bruder-Demokratie, dem Vorbild in Sachen Civil Society, der Befreier vom Faschismus begannen sich Fragen zu entwickeln, die immer noch unbeantwortet sind.

Dabei wird gerade in linken Kreise der intellektuelle und konkrete Einfluss amerikanischer und New Yorker Kultur auf linkes Denken und subkulturellen Lebensstil unterschätzt. Um nur oberflächlich ein paar Beispiele zu nennen: Ohne amerikanische Subkulturen und Bewegungen, wäre das deutsche 68 gar nicht möglich gewesen. Grundlagen und –impulse antirassistischen Denkens und antirasstischer Arbeit stammen aus der Black-Power und der Civil Rights Bewegung. Christopher Street. Ein anderer Ort, eine andere Zeit, eine andere Szene: Die Straßenschlachten von 1969 rund um die Kneipe Stonewall Inn sind der Ausgangspunkt für die mittlerweile weltweit stattfindenden Christopher Street Days. Auch wenn sie mittlerweile häufig für ihren kommerziellen und potentiell ent-politisierten Ablauf kritisiert werden, stellen sie doch an vielen Orten immernoch wichtige und umkämpfte Momente Schwuler und LGBT- Kultur und Emanzipation dar.

Auch für die als genuin (anti-)deutsche Geistesgeschichte wahrgenommene Frankfurter Schule ist die Stadt von enormer Bedeutung. Sie war einer der Zufluchtsorte linker und jüdischer Intelektueller Deutschlands in der Nazizeit. An der University of California etwa wurde die Arbeit des Instituts für Sozialforschung weitereführt. Gedankeneperiment: Wie hätte sich die kritische Theorie wohl entwickelt, wenn Adorno et.al. nicht in die USA, sondern in die Sowjetunion geflüchtet wären?

Der Einfluss der Stadt auf die (post-)moderne Kunstszene sei mit den Namen Andy Warhol und Richard Schechner nur angedeutet und ist einen ganz eigenen Artikel wert.

Zu guter Letzt und auf eine merkwürdige Art und Weise ist New York auch eine Stadt meiner Kindheit. Auch wenn dies als ich jung war bereits Geschichte war, gab es lange Jahre eine regelmäßige Fährverbindung zwischen Bremerhaven, wo ich aufgewachsen bin, und New York. Auch in dieser Beziehung zeigt sich der mythische Charakter New Yorks, nimmt es in dem Verhältnis der kleinen Hafenstadt und der großen Weltstadt die Position einer abwesenden Ursache und Projektionsfläche ein. In der Nähe des Containerhafens, gegenüber dem Eingangstor einer Werft findet sich die Kneipe Treffpunkt Kaiserschleuse. Von Matrosen erhielt sie irgendwann den Spitznamen Die letzte Kneipe vor New York, denn wer hier sein letztes Bier getrunken hat und trinkt, der muss einige Tage oder Wochen warten, bis es wieder die Gelegenheit gibt was zu sich zu nehmen, wobei New York hier ebenso als konkretes Ziel wie als Metapher für jeden beliebigen Anlaufhafen jenseits des großen Teiches dient. Wenn Bremerhaven sich selbst aufgrund seiner Bedeutung für die Amerika-Auswanderer im 18. Und 19. Jahrhundert als Tor zur Welt versteht, dann ist New York der Eingangspunkt zu genau dieser Welt.  Die in den Museen meiner Heimatstadt mit Stolz erzählten Geschichten dieser Verbindung beschreiben meist die Namen der Schiffe, die die Transatlantik-Verbindung gefahren sind, die technischen Details der Schiffe und Maschinen, die Lage der Kajen in den Bremerhavener Häfen, die Herkunftsverhältnisse der Einwanderer, Ausreiseprozeduren, die Bedingungen auf den Schiffen und Unterdeck. Meist enden sie aber spätestens mit der Ankunft in New York, werden selten konkreter als Ellis Island als ersten Anlaufpunkt zu nennen. Zuweilen wird noch eine Notiz hinzugefügt, was denn nun dieser oder jener in der ‚neuen Welt’ aus sich gemacht hat. Denn, wie Frank Sinatra singt und Jay-Z es als Echo aufnimmt, in NY macht man was aus sich: You can make it here, you can make it anywhere. Die Geschichten derjenigen, dies aber nicht machen, werden meist nicht erzählt.

In den folgenden Monaten will ich versuchen, ein paar Seiten all dieser vielfältigen Geschichten, Seiten und Momente dieser Stadt zu erkunden und auf diesem Blog festzuhalten – Stadterkundungen, politische Beobachtungen, Geschichten und Fotos sammeln die die hier angedeuteten Aspekte vertiefen.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.